August 3, 2010

Muguette Baudat: Vielleicht ist die Zeit gekommen


Bugie di sangue in Vaticano (1999) Discepoli di Verità, Mailand: Kaos edizioni
Ihr habt getötet (2003) Discepoli di Verità, Berlin: Aufbau-Verlag, ISBN 3-351-02551-3

S. 205-222) Ich bin Muguette Baudat, die Mutter des Vizekorporals Cédric Tornay.
Trotz allem, was nach dem 4. Mai 1998 geschehen ist (und was nicht geschehen ist), habe ich einen Rest an Vertrauen in die Justiz des Vatikanstaates bewahrt. Bis zum heutigen Tag wollte ich nicht riskieren, die Wiederaufnahme des Untersuchungsverfahrens, auf die wir immer noch warten, in irgendeiner Form zu gefährden. Ebensowenig wollte ich den vatikanischen Richtern irgendwelche Schwierigkeiten machen, jenen Richtern zumindest, die noch die Absicht haben könnten, die wahren Umstände und die wirklichen Gründe aufzudecken, die zum Tod von Cédric Tornay, Alois Estermann und Gladys Meza Romero [...] geführt haben.
Wenn der Vatikan seine Reputation retten will, indem er weiterhin eine schändliche Wahrheit verbirgt, dann ist es so, als würde er sich mit einem durchsichtigen Schal die Augen zubinden. An der Spitze der Kirche scheint die "Staatsräson" zu regieren, und ich denke, dies ist der Grund, weshalb die Verantwortlichen in der römischen Kurie solche Anstrengungen unternehmen, damit der Welt eine grauenhafte Wirklichkeit verborgen bleibt. Diese hohen Würdenträger haben beschlossen, Täter und Auftraggeber des Massakers vom 4. Mai zu decken. Ob sie nun die Identität der Mörder genau kennen oder nicht, sicher kennen sie das Motiv für die Exekution von Oberst Estermann, und dies könnte man als ein "Lügen durch Verschweigen" bezeichnen.
Tatsächlich hat nichts aber auch gar nichts beweisen können, dass die Tat sich so abgespielt hat, wie der Heilige Stuhl es mit seiner "offiziellen Wahrheit" unter Trommelwirbeln und Fanfarenstößen proklamierte.
Am 4. Mai wurden ein frisch ernannter Kommandant der Schweizergarde, dessen Ehefrau und ein junger Unteroffizier im Vatikan tot aufgefunden, während in der Kaserne Familien spazieren gingen, die nichts gemerkt hatten und ohne dass Alarm gegeben worden wäre, als Schüsse detonierten, die niemand hörte. Das ist unfassbar. Wie konnte man sicher sein, dass nicht gleichzeitig auch die Unversehrtheit des Heiligen Vaters auf dem Spiel stand? Genügten zwanzig Minuten, um den ganzen Vatikanstaat von oben bis unten zu durchsuchen? Hat man geklärt, warum merkwürdigerweise die Führungskräfte des Korps an jenem Abend abwesend waren?
Ich betrachte es folglich als mein gutes Recht, den Verteidigern der vatikanischen "Staatsräson" und ihren Aussagen über meinen Sohn mit Misstrauen zu begegnen und ihrer Rekonstruktion der Ereignisse – vor allem der Todesumstände meines Sohnes Cédric – zu widersprechen. Und ich denke, dass heute, nach so vielen Monaten, eine öffentliche Bilanz von Nutzen sein könnte, denn viele Leute beobachten mit Sorge, dass seit Februar 1999, seit dem "Schlusswort" durch den Vatikan, der Mantel des Schweigens über die Affäre gebreitet wurde. Es ist an der Zeit, dass alle Menschen, die mir Mut zugesprochen und mich unterstützt haben, über die Vorkommnisse und die heutige Situation unterrichtet werden. Doch soviel sei klar: ich will niemanden bekehren.

Der Verlag Kaos edizioni hat mir die Möglichkeit geboten, mich öffentlich zu Wort zu melden, und ich habe schließlich eingewilligt, denn mir wurde bewusst, dass nicht ich allein lautstarke Zweifel an jener "Wahrheit" anmeldete, die der Heilige Stuhl mit vorschneller Anmaßung sanktioniert hatte. Ich habe zwar darauf verzichtet, auf den Inhalt dieses Buches Einfluss zu nehmen – kenne auch weder die Autoren noch ihre Quellen – doch wurde mir klar, dass man hier nichts anderes als die Wahrheit fordert, und zwar mit Vehemenz. Nach einigem Nachdenken entschied ich daher, mich im Anhang des Buches einzuschalten.
Umso mehr, als in Rom ein geschmackloses Büchlein veröffentlicht wurde, gegen dessen Form wie Inhalt ich vorgehen könnte und in dem die Opfer des 4. Mai 1998 für einen Kampf missbraucht werden, der nicht der meinige ist. Ich möchte mich von diesem erbärmlichen Machwerk ausdrücklich distanzieren, auch wenn das Bändchen auf eine Hypothese hinausläuft, die von meiner Überzeugung nicht allzu weit entfernt ist. Dass nämlich die Estermanns einem geplanten Mord zum Opfer fielen und dass man die Tötung Cédric Tornays mit einkalkuliert hatte, um diese politische Tat zu "verdecken". Dies ist das einzige Verdienst, das man dieser vorgeblichen Enthüllung zusprechen kann. Wenn der Autor auch erkannte, dass hinter der Tragödie des 4. Mai ein Dreifachmord steckt, so hat er dies benutzt, um mit der katholischen Kirche und den Hierarchien des Vatikans persönliche Rechnungen zu begleichen. Damit dies ein für allemal geklärt ist: Cédric Tornay wird niemals als Symbol für irgend etwas stehen, weder innerhalb noch außerhalb der heiligen Mauern und schon gar nicht als Märtyrer der Schwulenbewegung.
Die Herren Croce und Lacchei sahen im Blutbad des 4. Mai – über das sie in Wirklichkeit nichts wissen, außer den wenigen Einzelheiten, die sie (häufig fehlerhaft) aus den italienischen Zeitungen abkupferten – eine unverhoffte Gelegenheit, ihren "Verfolgern" eine Abreibung zu verpassen. Mein Kampf für die Wahrheit darf mit ihrem Kampf weder verwechselt noch vermischt werden. Trotz seine schmeichlerischen Widmung und den guten Ratschlägen, die er mir erteilte, soll Herr Croce wissen, dass über Lügen und Manipulationen kein Mensch zur Wahrheit gelangt, und sein Buch – das trotz seines propagandistischen, marktschreierischen Titels ohne jedes Interesse ist – ist ebenso inhaltsarm wie stilistisch verpfuscht. Warum sollte ich meine Dokumente an die italienische Gerichtsbarkeit übergeben, wie mir vorgeschlagen wird? Ich habe schon genug mit den Absonderlichkeiten ihres vatikanischen Pendants zu tun. [...]
Ich breche heute mit Hilfe eines kleinen, als "antiklerikal" bezeichneten Verlags mein Schweigen, weil ich eine konkrete Gelegenheit nutzen wollte: eine unabhängige Plattform, die keine Bedingungen stellte und mich nicht beeinflussen wollte.
Ich möchte kein Urteil über den Inhalt dieses Buches abgeben. Jedoch stelle ich fest, dass sich viele der hier aufgezeigten Fakten mit meinen Unterlagen decken oder diese komplettieren. Und übereinstimmend belegen sie, wie unwahrscheinlich die "offizielle Version" des Heiligen Stuhls ist, wie viele Ermittlungslücken die Untersuchung durch den Vatikan aufweist (Fakten, Personen, Verantwortlichkeiten, Hintergründe). Ich hoffe daher, dass auch dieser Ansatz dazu beiträgt, die zuständigen Behörden in die Pflicht zu nehmen, damit sie ihre Arbeit auf neuer Grundlage von vorn beginnen: unter neuen Gesichtspunkten, mit anderen Hilfsmitteln und unter Gewährleistung von absoluter Transparenz und Unabhängigkeit.
So habe ich denn beschlossen, der Öffentlichkeit verschiedene Dokumente zugänglich zu machen. Und zwar beginne ich mit einem Bittgesuch und einem persönlichen Brief, die ich in den letzten Monaten an den Heiligen Vater gerichtet habe. Da mein persönlicher Brief an den Papst vom 8. Juli 1999 ohne jede Erwiderung geblieben ist (ebenso wie das offizielle Bittgesuch vom 18. Sept. 1998), denke ich, steht es mir nun frei, den Inhalt publik zu machen. In beiden Fällen ist ein beträchtlicher Zeitraum verstrichen, und so fühle ich mich nicht mehr an die Diskretion und Zurückhaltung gebunden, die ich bis heute (allein aus Hochachtung vor der Person des Heiligen Vaters) bewiesen habe.
Des weiteren veröffentliche ich drei Beschlüsse der Justizbehörden des Vatikanstaates und ein Attest der Direktion des vatikanischen Sanitätsdienstes. Diese Papiere gehören nicht zu den Dokumenten, die ich über das Verbrechen und dessen Zusammenhänge gesammelt habe. Sie gehören nicht einmal zu den damit verbundenen Unterlagen und wissenschaftlichen Gutachten. Sie sind Teil einer Unmenge von Zeugnissen und unveröffentlichten Informationen, die ich bis heute sammeln konnte. Ich verfüge über eine Masse an Dokumenten, die ich für die gerichtlichen Auseinandersetzungen aufsparen möchte, auf die ich noch immer geduldig warte.

Die zwei Schreiben, die ich an den Papst gerichtet habe, und diese vier offiziellen Dokumente des Vatikans werden jedem vor Augen führen, in welcher juristischen Sackgasse das Blutbad vom 4. Mai 1998 heute steckt. Ich für meinen Teil richte damit eine dreifache Botschaft an die öffentliche Meinung: eine Geste der Dankbarkeit, einen Appell an Zivilcourage und Verantwortungsbewusstsein und schließlich ein Zeichen der Hoffnung und Erwartung.
Jeder anständige Mensch soll wissen, dass man sich, wenn denn der gute Wille vorhanden ist, auf die "wirkliche Wahrheit" anstelle der "offiziellen Wahrheit" berufen kann, woher auch immer diese rühren mag. Auch wenn der Heilige Stuhl etwas anderes glauben machen will, die Affäre vom 4. Mai 1998 ist nicht zu den Akten gelegt, ist nicht abgeschlossen und vor allem nicht offiziell geklärt. Für die irdische Gerechtigkeit ist noch längst nicht gesorgt.
Ich danke von ganzem Herzen den vielen Menschen, die mir in all den Monaten moralische und praktische Unterstützung haben zuteil werden lassen, vor allem jenen, die meinem Appell vom Januar 1999 nachgekommen sind – ihnen bin ich besonders verpflichtet. Mit diesen Zeilen begleiche ich vor allem eine Schuld ihnen gegenüber, und ihnen spreche ich noch einmal meinen tiefen Dank aus. Alle diese Freunde, bekannte und unbekannte, haben einen zusätzlichen Beweis von Zivilcourage verdient. Mein Kampf ist auch ihr Kampf.
All denjenigen, die Cédric kannten, vor allem seinen Freunden beziehungsweise Kollegen der Schweizergarde, möchte ich folgendes sagen: ich weiß, dass ihr aus Furcht schweigt. Und wenn euer Schweigen nicht von diesem Gefühl diktiert wäre, hätte man im übrigen das Recht noch Schlimmeres zu vermuten. Ich möchte euch ein weiteres Mal zurufen: Sprecht! Erleichtert euer Gewissen. Gehorcht eurer Pflicht als aufrechte Männer, die dieser Bezeichnung würdig sind! Wie lange werdet ihm mit diesem Stachel in der Brust leben können, ihr, die ihr in der Schweizergarde zu falscher Aussage gezwungen wurdet und die ihr verschwiegen habt, was ihr doch wisst? Noch immer warte ich darauf, dass die Personen, die mir kurz nach dem Massaker bestimmte Fakten offenbarten, sich dazu durchringen, dasselbe an geeigneter Stelle zu wiederholen. Dieser Appell richtet sich an Offiziere und Unteroffiziere der Schweizergarde, und weniger an die aktuell verpflichteten als vielmehr an diejenigen, die in letzter Zeit das Korps verlassen haben. Herr Roland Buchs hat wiederholt erklärt, dass über das Verbrechen vom 4. Mai "nur Gott die Wahrheit kennt". Doch welchen Gott meinte er? Der Gott, den ich kenne, hat mit dieser Geschichte, die einfach nur unmenschlich ist, nichts zu schaffen.
Was den einnehmenden "Beichtvater" und vorgeblichen "geistlichen Beistand" Cédrics betrifft – ein Konzentrat aus Heuchelei, Lügen und Widersprüchlichkeiten, gewiss ein Priester aber sich keine autonom agierende Hauptfigur – ich weiß, was er vor dem Untersuchungsrichter zusammengestammelt hat: "Aus Liebe und zum Schutz der Kirche" hat er seine ursprünglichen Bekenntnisse "vergessen". Ist er davon überzeugt, oder hat man ihn überzeugt? Sei's drum. Aber er sollte sich keine Illusionen machen: früher oder später wird der Tag kommen, an dem auch er sich erklären muss, und zwar ausführlich.
Ebensowenig werde ich die asiatischen Bischöfe vergessen, die in jenen Tagen bei Estermanns zu Gast waren, und auch bestimmte Bischöfe meines Heimatlandes nicht. Doch da sind auch Pater Roland Trauffer und vor allem Monsignore Alois Jehle, die wohl viel zu erzählen hätten. Ich wünsche mir nur, dass sie lange genug leben um das zu sagen, was das Ansehen ihrer Kutte verlangt. [...]
Ich möchte, dass alle Mütter, alle Eltern und Freunde von offiziellen "Suizidopfern" – besonders von Polizisten und Soldaten – wissen, dass sie vor den großen und kleinen Gründen der "Staatsräson" nicht mehr allein dastehen.
Vielleicht ist die Zeit gekommen, eine gemeinsame Phalanx zu organisieren, die in den sogenannten zivilisierten Ländern weitaus verbreiteter ist, als man meint.
Und ich denke zuallererst an die Angehörigen der beiden anderen Opfer des 4. Mai, die sich, wie es scheint, bisher an die "offizielle Version" gehalten haben. Ob sie davon alle wirklich überzeugt sind, entzieht sich meiner Kenntnis, doch sie sollen wissen, dass ich mich ihnen nahe fühle, jenseits jeglicher Zwietracht, die manch einer zwischen uns säen möchte.

Das Bittgesuch an den Papst

Am 4. September 1998 traf ich – nachdem ein Hauptmann der Schweizer Armee mir seinen ausdrücklichen Wunsch mich zu sehen, übermittelt hatte – den Sekretär der Nuntiatur in Bern. Am 13. September suchte mich dann der Offizier gemeinsam mit dem Sekretär der Nuntiatur zu Hause auf, in einer vertraulichen Spähmission. Durch die beiden Treffen wollte man herausfinden, wie viel ich wusste und was ich zu tun beabsichtigte. Nachdem die beiden Abgesandten dem Nuntius, und dieser wiederum dem Staatssekretär, Bericht erstattet hatten, schlug die Mission in Einschüchterungsversuche um. Die Botschaft war klar.
Infolge dieser beiden Treffen beschloss ich, mich direkt an den Heiligen Vater zu wenden, und zwar mir einem Bittgesuch.

Heiligster Vater,
ich bin die Mutter des Vizekorporals Cédric Tornay. Eine Mutter, der das Schicksal den Sohn entrissen hat, wendet sich wie eine Tochter an Euch.
Ich war bereit, die dreifache Schuld Cédrics einzugestehen, doch ich wurde sofort unter Druck gesetzt und mit Manipulationen, Verheimlichungen und Lügen umgeben. Außerdem sind die Erklärungen von seiten der Kurienvertreter wie auch die Einzelheiten der Untersuchungen, in die mir Einsicht gewährt wurde, alles andere als beweiskräftig. Ich kenne die Akten der vatikanischen Ermittlungsbehörden nicht, doch das Konstrukt der offiziellen Version hält einer Tatsachenanalyse nicht stand.
Ich weiß nun, dass sich das Verbrechen vom 4. Mai nicht so abgespielt hat, wie es die offizielle Version will, eine Version, die am selben Abend, zeitgleich mit der Eröffnung des Ermittlungsverfahrens ausgearbeitet wurde. Und abgesehen von allen Vernunftgründen: unablässig rührt die Stimme meines Sohnes mir an Herz und Ohr: "Mama, ich war es nicht."
Wie andere Leute auch möchte ich einfach die Wahrheit erfahren, wie auch immer sie aussehen mag. Ich habe mich entschlossen, einer vatikanischen Rechtssprechung zu vertrauen, die in Eurem Namen und an Eurer Stelle handelt. Doch als die Ermittlung an den Staatsanwalt weitergeleitet wurde, der, wie man sagt, den Fall möglichst schnell zu den Akten legen sollte, hatte man mich noch kein einziges Mal als Zeugin vor den zum Untersuchungsrichter gewordenen Staatsanwalt Nicola Picardi geladen. Und im übrigen werde ich seit dem 7. Mai 1998 von allen Vorgängen abgeschirmt.
Doch nun, Heiligster Vater, komme ich zu den eigentlichen Gründen, die mich heute dazu treiben, mich vor Euch zu öffnen. Anfang des Monats kam ein Mittelsmann zu mir und sagte, der Sekretär der Berner Nuntiatur wolle mich treffen. Wir verabredeten uns an einem neutralen Ort in der Schweiz, in Sankt Gingolph am Genfer See, in der Nähe der französischen Grenze. Wir trafen uns Freitag, den 4. September 1998, um 16 Uhr. Trotz des liebenswürdigen Auftretens meiner Gesprächspartner wurde klar, dass sie nur herausfinden wollten, wie viel ich wusste, ich welcher psychischen Verfassung ich mich befand und was ich vorhatte. Es ist übrigens kurios, dass offensichtlich die meisten Geistlichen der Meinung sind, Frauen seien geistig beschränkt. Am Ende der Unterredung gab mir Monsignore B.M.R. ein weißes Etui, in dem sich ein hübscher Rosenkranz befand. Doch er sagte mir nicht, ob dieses Geschenk von Eurer Heiligkeit stammte. Er blieb vage in diesem Punkt.
Neun Tage später, am Sonntag, dem 13. September, gegen Abend, kamen dieselben Personen (ohne Vorankündigung und ohne dass ich sie eingeladen hätte) zu mir nach Hause. Da sie eine weite Strecke gefahren waren um mich zu sehen, gebot mir der Anstand sie zu empfangen. Hinter Phrasen, Andeutungen und weitschweifigen Ausführungen steckte eine klare Botschaft: Man legte mir mit Nachdruck nahe zu schweigen. Man sagte mir, dieser Ratschlag (um nicht zu sagen: diese fast unverhohlene Drohung) käme von einer Stelle "über" Eurem Staatssekretär. Ich kann nicht glauben, dass diese Aktion von Euch ausging und auch nicht, dass sie von Eurer Autorität gedeckt wird.
Nun, Heiligster Vater, begreift Ihr die Lage, in der ich mich befinde. Ich war es mir schuldig, Euch dies anzuvertrauen. Ich fürchte nicht so sehr für mich selbst wie für meine Familie. Aber ich kann mich einfach nicht geschlagen geben. Wir alle, auch die Kirche, haben das Recht auf Wahrheit, und außerdem habe ich die Pflicht, das Andenken meines Sohnes zu schützen.
Ich bin sicher, dass Ihr meinen Gemütszustand begreifen und das Richtige unternehmen werdet um zu verhindern, dass die Kirche ihr Gesicht verliert.
Was auch immer geschehen mag, ich werde, obwohl ich Protestantin bin, nicht aufhören, für Euch und Eure Schweizergarde zu beten. Allein das Korps kann nämlich für Eure leibliche Unversehrtheit und Eure Unabhängigkeit als Oberhaupt der Kirche garantieren. Und nun soll die Funktion der Schweizergarde auf harmlose Folklore beschränkt werden. Das grausame Schauspiel vom 4. Mai scheint mit dem internen Konflikt zusammenzuhängen, in dem sich das Korps seit einigen Jahren zerreibt. Ich bitte Euch, lasst dem neuen Kommandanten Eure persönliche Unterstützung zukommen! Unterstützt die Schweizergarde für die Zukunft!
Ich bitte Eure Heiligkeit: betet, dass die drei Toten vom 4. Mai in ewigem Frieden ruhen, die drei, die geopfert wurden, auf dass die päpstliche Schweizergarde leben möge, wie auch immer sich die Tat abgespielt hat. Sie verloren oder gaben ihr Leben für Euch, auf mysteriöse Weise, in Erfüllung ihres Eides, den sie an einem 6. Mai für Euch abgelegt hatten. Ich bitte Euch außerdem: betet für mich und meine Tochter, wie ein Vater für seine Familie.
In der Hoffnung auf Euer Verständnis und Euren Schutz versichere ich Euch, Heiligster Vater, meiner Zuneigung und Ergebenheit.
Vollèges, 18. September 1998
Muguette Baudat
"Man sieht nur mit dem Herzen gut." (handschriftlich angefügt)

Dieses Bittgesuch erreichte seine Destination am 26. September: es wurde in den Privatgemächern des Palastes von Castel Gandolfo zugestellt, wo der Heilige Vater gerade weilte. Das Bittgesuch wurde einem an Monsignore Mieczyslaw Mokszycki (den Sondersekretär des Heiligen Vaters) adressierten Schreiben beigelegt. Hat Monsignore Mokszycki den Text des Gesuches, der ihm in fotokopierter Form vorlag, gelesen? Und hat er ihn dem Papst unterbreitet? Oder hat er ihn statt dessen – was wahrscheinlicher ist – an Monsignore Stanislaw Dziwisz weitergeleitet, der – auch wenn er inzwischen Bischof und beigeordneter Präfekt des Päpstlichen Hauses ist – weiterhin den "Kabinettschef" des Heiligen Vaters abgibt? Mein Bittgesuch ist jedenfalls ins Staatssekretariat gelangt. Und eines ist sicher: der Heilige Vater hat mir nicht geantwortet, hat mir auch nicht antworten lassen, und es hat auch niemand sonst an seiner Stelle geantwortet.
Ich nehme an, dass der Heilige Vater mein Bittgesuch niemals erhalten hat und dass Kardinal Sodano und Monsignore Giovanni Battista Re – mit oder ohne das Einverständnis von Monsignore Dziwisz – beschlossen haben, es stillschweigend zu den Akten zu legen. In diesem Fall wurde die kirchliche Tradition verletzt: Es ist nicht bekannt, dass ein Bittgesuch an den Heiligen Vater jemals ohne Erwiderung blieb, und sei es nur ein banaler Formbrief, in dem – wohlgemerkt – Verständnis und der päpstliche Segen erteilt werden. Dieses Schweigen ist meiner Meinung nach ein Beweis dafür, in welche Verlegenheit ich die engsten Mitarbeiter des Papstes mit meinem Vorstoß gebracht habe. [...]

Wirft man einen Blick auf die Unterlagen, so wird folgendes deutlich: Die Voruntersuchung zum Verbrechen des 4. Mai 1998 wurde vom Untersuchungsrichter am Gerichtshof des Vatikanstaates geleitet. Die Untersuchung wurde noch am Abend des 4. Mai eröffnet und von demselben Richter am 9. Mai abgeschlossen, also nach nur fünf Tagen. Die Akte wurde dann an den "Promotore die Giustizia" weitergeleitet, also an den Staatsanwalt des Vatikanstaates, der die Ermittlungen allein weiterführte. Diese zweite Phase der Untersuchung endete am 1. Februar 1999 damit, dass der zum Untersuchungsrichter gewordene Staatsanwalt seinen Abschlussbericht dem Einzelrichter aushändigte, der Person also, die zu Beginn die Rolle des Untersuchungsrichters gespielt hatte! Mit anderen Worten: Herr X eröffnet und leitet die Untersuchung, um sie dann an Herrn Y weiterzuleiten. Herr Y führt die Ermittlungen und legt seine Schlussfolgerungen in die Hände von Herrn X. Herr X beschließt, die Untersuchungen einzustellen und den Fall zu den Akten zu legen, überträgt Herrn Y aber gleichzeitig einen neuen Ermittlungsauftrag.
Mann kann nur den Kopf schütteln, wenn man sieht, dass der Untersuchungsrichter und der rechtsprechende Richter in der Rechtsordnung des Vatikanstaates einunddieselbe Person sind und dass außerdem eine kriminalpolizeiliche Ermittlung sofort einem Staatsanwalt anvertraut wird, der – auf sich allein gestellt – anhand einer "offiziellen Version" der Fakten agiert.
Diese "offizielle Version" wiederum wird von einer politischen Instanz (dem Staatssekretariat), dem höchsten Organ des Heiligen Stuhls, proklamiert, das theoretisch mit der Gerichtsbarkeit des Vatikanstaates überhaupt nichts zu schaffen hat. Und der Staatsanwalt führt die Untersuchung über 267 Tage und duldet, trotz seiner Zweifel, die er am 17. Juli 1998 selbst äußert, nicht, dass die Verteidiger des schon im Vorfeld Schuldiggesprochenen an der Ermittlung beteiligt werden.
Am 1. Februar 1999, also neun Monate nach Einleitung des Untersuchungsverfahrens, beantragt der vatikanische Staatsanwalt beim Einzel- und Untersuchungsrichter die Archivierung der Voruntersuchung. Diesem Antrag wird sofort stattgegeben, ebenso dem Antrag, dass kein Strafverfahren (gemeint ist: gegen Cédric Tornay) eröffnet werden soll.
Der Beschluss vom 5. Februar 1999 scheint somit auch zu begründen, warum eine "Fortführung unangebracht" sei. Doch die Entscheidung des Untersuchungsgerichts, den Fall zu archivieren, wird ohne genaue und beweiskräftige Begründung gefällt. Und noch dazu ordnet derselbe Richter – diesmal in seiner Funktion als Einzelrichter – die Weiterführung der Untersuchungen zum Delikt des 4. Mai 1998 an, da sich "als notwendig erwiesen hat, dass weitere Fakten vertieft werden". Hier drängt sich die Frage auf, ob die ganze Angelegenheit im Sand verlaufen soll oder ob man das Ermittlungsverfahren tatsächlich weiterführen will.
Der ambivalente Beschluss vom 5. Februar stellt bis heute die einzige offizielle Entscheidung dar, die die vatikanische Gerichtsbarkeit im Zusammenhang mit dem Verbrachen vom 4. Mai gefällt hat. Und Cédric Tornay wird darin weder als "der" überführte Täter definiert, noch verdächtigt man ihn, einen Zweifachmord und Suizid begangen zu haben. Doch die Version, die das Staatssekretariat drei Tage später verbreiten ließ, verwandelte ihn in die vollkommene Bestätigung der eigenen "offiziellen Version", wobei suggeriert wird, auch der Gerichtshof des Vatikanstaates hätte die Schuld des Mörders und Selbstmörders in aller Form anerkannt. Eine skandalöse Fehlinterpretation, eine perfide Irreführung der öffentlichen Meinung.
Jedermann wird feststellen, dass in der Rechtsordnung des Vatikanstaates eine extreme Verwirrung und Überschneidung der Kompetenzen herrscht, wobei die Richter und Staatsanwälte einander auf groteske Weise die Bälle zuspielen. In unserem Fall sticht zudem die Einseitigkeit des Verfahrens ins Auge: eine parteiische Prägung und die Missachtung grundlegender Rechtsnormen – wie die Unschuldsannahme und das Recht auf Verteidigung – die im Strafrecht aller freien und demokratischen Staaten festgeschrieben sind. Ganz zu schweigen von der eisernen Kontrolle, die die politische Macht des Vatikans – theoretisch vom Staat Vatikanstadt getrennt – auf die zivil- oder strafrechtlichen Verfahren des Vatikans ausübt.

Ein Insiderbericht des inzwischen verstorbenen Prälaten Luigi Marinelli über Machtstreben und Erpressung im Umfeld des Heiligen Stuhls bringt totalitäre Umgangsformen und mafiose Machenschaften im Vatikan an den Tag. Marinelli war Mitautor des Enthüllungsbuchs "Via col vento in Vaticano" – wörtlich übersetzt "Vom Winde verweht im Vatikan", auf Deutsch erschienen unter dem Titel "Wir klagen an: zwanzig römische Prälaten über die dunklen Seiten des Vatikans". Sein Urteil ist hart: "Karrieristen und Freimaurer, wo man nur hinschaut im Vatikan. Das dürfen wir nicht länger hinnehmen."
Der Vatikan schweigt. Und das hat Tradition. Selbst das Attentat auf Papst Johannes Paul II. 1981 und nicht zuletzt der spektakuläre Mord am Bankier Gottes, Roberto Calvi, wurden nie endgültig aufgeklärt. Der Vatikan wirkt wie sein eigener Souverän, der seine eigenen Gesetze macht. Kontroll- und Beschwerdeinstanzen scheinen nicht zu existieren, Mitbestimmung ist nicht vorgesehen, nur Gnade und Gehorsam.
Von einem weltlichen Rechtsstaat ist der Vatikan weit entfernt, findet auch Luc Brossollet: "Das Justizsystem des Vatikans ist alles andere als demokratisch. Man macht und erlässt Gesetze im Namen Gottes und eben nicht im Namen des Volkes. Und um das zu machen, bedient man sich eines alten Codes, dem faschistischen Code aus der Zeit Mussolinis, der immer noch in Kraft ist."

On 4 May 1998, twenty years after the mysterious death of John Paul I, Cedric Tornay, a twenty-three year old vice-corporal in the Vatican Swiss Guards killed his superior, Colonel Alois Estermann, and his wife Gladys with his regulation pistol. He then took his own life. The Colonel, forty-four, had been promoted the day before to take command of the pontifical army.
At least that is the official version, issued barely three hours after the drama by Joaquin Navarro-Valls, the Vatican spokesman, and "confirmed" in February 1999: after a nine month inquiry, the Vatican promoter of justice concluded that "the Estermann couple had been killed by Vice-Corporal Tornay, who then immediately took his own life with the same regulation pistol."
However, just as with John Paul I, no one saw anything, no one heard anything that occurred that evening in the Estermanns' apartment, situated just a few metres away from that of the Holy Father. But Cedric Tornay left a letter, addressed to his mother, in which he explains his action and begs her forgiveness.
When she read this document, Cedric's mother, Muguette Baudat-Tornay, was stunned: not only was it not in her son's handwriting, but evidence that he was not its author was all too obvious. In the top right-hand corner it read, "Vatican, 4.05.98." Muguette is categorical about this: Cedric was in the habit of writing the name of the month in full, and furthermore he never used an initial zero to indicate the first nine months of the year. Another peculiar reference: that of "lieutenant-colonel" Estermann, when Cedric could not be unaware that he had just been promoted colonel. Similarly, he calls his sister "Melinda", whereas he used to call her Dada. He writes, "I took an oath to give my life for the Pope and that is what I am going to do." But he always used to say "Holy Father" rather than "Pope".
Cedric Tornay's mother therefore immediately let it be known that her son had been murdered: "The three people killed on 4 May last were the victims of a plot and the official version is full of deceit, contradictions and lies in order to hide a probably inadmissible truth." She stated that she held "two documents of great importance in a safe place", which will "force the Vatican to tell the truth". According to her, "the Colonel [Estermann] had seen or knew something that he should not have seen or known."
Finally, Mrs Tornay declares that "several people put pressure on me and tried to discourage me in my fight for the truth". The chaplain of the Swiss Guard, Mgr Jehle, even attempted to dissuade her from going to the Vatican to take part in her son's funeral! Twice she tried directly to contact the Holy Father: through a formal request dated 18 September 1998, which remains unanswered, and then by a letter dated 8 July 1999, which has not received a reply either. [...]

One of Cedric's colleagues, Corporal Christian Richard has, in a single phrase, cast a harsh light on this drama: "It is too easy to make Cedric into a scapegoat for this dirty business." Rather than "scapegoat", it would be better to say red herring.To create a diversion when fox hunting, a rotting herring is waved before the pack of dogs to make them loose the scent and so bring the hunt to an end. The red herring thrown to journalists and the public to devour is Vice-Corporal Cedric Tornay, presented as "an assassin who acted in a fit of madness, murdering the colonel and his wife, and then taking his own life".
The inquiry was rigged, falsified in a thousand ways, and oriented so as to endorse this "official thesis", and everyone's attention was focused on Cedric Tornay. Immediately, without the slightest hesitation, as was the case in the assassination of John Paul I twenty years earlier, as was the case in that of Roberto Calvi which closely followed it, a number of people intervened, doctoring the scene of the murder and removing all the evidence. The two "forensic pathologists working for the Holy See", Pietro Fucci and Giovanni Arcudi, if they were not actually waiting on the stairs like John Paul I's embalmers, carried out the autopsy a few hours after the crime, and in secret. The gathering of evidence and the ballistic analyses were carried out by Raoul Bonarelli, under their exclusive supervision.